Sachsen und das Reich
Heinrich I. († 936), Nachfahre jenes Liudolf, der Mitte des 9. Jahrhunderts als Herzog der östlichen Sachsen bezeugt war, steht am Anfang der Reihe der Sachsenherrscher, die nach dem Namen dreier aufeinanderfolgender Kaiser auch Ottonen genannt werden, die eigentlichen Schöpfer des Reiches der Deutschen, die fränkische Traditionen erneuernd, die Kaiseridee wieder aufgriffen. Im Bereisen seiner Herrschaft nimmt ein damaliger Kaiser sein Amt wahr, Pfalzen sind Stützpunkte eines reisenden Königshofes wie z. B. Quedlinburg, Grone bei Göttingen, Pöhlde. Wenn ausgerechnet am Versammlungsplatz des Sachsenstammes in Werla bei Goslar eine Pfalz entsteht, so wird die Verbindung von Reichs und Stammesherrschaft sichtbar. Die häufige Abwesenheit des Kaisers aber verlangt nach Stellvertretung, vor allem nach Schutz der von den Slawen gefährdeten Grenzen. Darauf beruht der Aufstieg der Billunger, die seit Herrmann Billung († 973) alle anderen Grafengeschlechter im Lande zu überflügeln beginnen. Stabilität verleiht der Herrschaft eines reisenden Königs vor allem die Kirche. Die Bischöfe waren noch unangefochten von ihm eingesetzt. Bernward von Hildesheim († 1022), unter dem die ottonische Kunst in Architektur und Buchmalerei, in Goldschmiedekunst und Bronzeguß einen Höhepunkt erlebt, mag als Vertreter des sogenannten ottonischen Reichskirchensystems, wie es auch Sachsen umspannte, stehen.
Nach dem Aussterben der Ottonen (1024) begann der Stamm, der bis dahin das Königtum getragen hatte, von diesem, das an die rheinischen Salier übergegangen war, beherrscht zu werden. 1073 kam es zum Aufstand der Sachsen gegen den König, gegen Heinrich IV. Ein labiler Friede nur konnte 1075 geschlossen werden; die von mächtigen Grafen des Landes getragene Opposition mündete in den Investiturstreit, in den Kampf zwischen Kaiser und Papst um das Besetzungsrecht der Bistümer, ein. Als schließlich 1122 der Kompromiß in diesem Streit gefunden wurde, war es wieder der sächsische Herzog, Lothar von Süpplingenburg, der 1125, nach dem Aussterben der Salier, zum König gewählt wurde. Durch Heirat hatte Lothar ein beträchtliches Eigengut im Lande gewonnen, der Söhnelose vererbt es seinem Schwiegersohn, Heinrich dem Stolzen, mit dem die Welfen, die mit den Staufern konkurrierende Dynastie aus karolingischem Hochadel, in Sachsen heimisch werden. Sein Sohn war der bereits in seiner Bedeutung für die sächsische Geschichte erwähnte Heinrich der Löwe. Die Folgen des Sturzes dieses Herrschers, der zugleich auch Herzog von Bayern gewesen war, schienen rückgängig gemacht werden zu können, als 1198 sein Sohn Otto IV. in einer Doppelwahl von einem Teil der Fürsten zum König ausgerufen wurde.
Als Kaiser Otto IV. dem staufischen Rivalen unterlegen und einsam 1218 auf der Harzburg gestorben war, war zugleich für die Geschichte des deutschen Nordens eine Epoche zu Ende gegangen. Mit den Sachsenherrschern hatte die enge Einbeziehung des Stammes in die königliche Herrschaft begonnen, die, gewiß auch konfliktträchtig, eine Herrschernähe voraussetzte. Die Nachfolger Ottos IV. aber kamen nur noch äußerst selten in den deutschen Nordwesten. Hier verfielen die einstmals so bedeutsamen Königspfalzen. Aus einer köngsnahen war eine königsferne Landschaft geworden.
Reich und Stamm, Königsherrschaft und Herzogtum sind in ihrem Verhältnis während des Mittelalters nicht mit modernen staatlichen Begriffen zu beschreiben. Personale Beziehungen bestimmten das Wechselverhältnis. Sie fehlten weitgehend während des späten Mittelalters. Es liegt letztlich in der Entwicklung einer größeren Schriftlichkeit, die auch den entfernten Kaiser befähigt Befehle und Mandate in den deutschen Norden ausgehen zu lassen, daß mit dem Anbruch der frühen Neuzeit, mit dem beginnenden 16. Jahrhundert, die Reichsgewalt im Norden wieder an Einfluß gewinnt. Ein Beispiel: Heinrich der Jüngere von Braunschweig Lüneburg kann 1519 nach der verlorenen Schlacht bei Soltau erleichtert aufatmen, als ihn die Nachricht von der Wahl Karls V. erreicht. Die folgenden Ereignisse, der Friedensschluß in der Hildesheimer Stiftsfehde, bestätigten, daß kaiserliches Wohlwollen eine militärische Niederlage aufzuwiegen vermochte.