Die Sachsen im Frühmittelalter
Häufig ist die Frage diskutiert worden, ob die weiträumige Herrschaftsbildung der aus Holstein eingewanderten Sachsen, die in bereits besiedelte Gebiete bis zum 7. Jahrhundert vordrangen, auf Bündnis und freiwilligem Anschluß schwächerer Stämme oder auf Unterwerfung beruhte. Die Frage trägt etwas anachronistische Züge angesichts der Bedingungen der damaligen Zeit, angesichts archaischer Gesellschaften, in denen oft nur Nuancen das Geschenk vom Tribut trennten. Sie ist nicht mit einem "entweder – oder", sondern mit einem "sowohl – als auch" zu beantworten. Gewalt, Eroberung und Verknechtung müssen eine Rolle gespielt haben, nur sie erklären die den Sachsen eigentümliche Sozialverfassung mit der Führungsschicht der Edelinge, mit bevorrechtigten Frilingen, halbfreien Laten und Unfreien. Weiterhin ist den Sachsen das Fehlen einer monarchischen Verfassung, eine Gefolgschaftsspitze, eigentümlich. In der Stammesversammlung zu Marklo – möglicherweise das heutige Markloh bei Nienburg – fanden sich die West- und Ostfalen, die Nordleute und die Engern zusammen, und auch diese hatten in ihrer Heimat keine feste Verfassung. Die politischen Strukturen waren in ihrer Lockerheit von der Siedlungsweise geprägt. Die Menschen lebten in einzelnen Siedlungskammern, die, von Wald und Mooren begrenzt, keine größeren geschlossenen Einheiten und damit keinen festeren Stammesverband zuließen. In einer Landschaft, in der noch die Natur den Menschen die Verfassung diktierte, können nicht nur schlichte Gewalt und brutale Eroberung für die Stammesbildung wirksam geworden sein. Die ganze Skala der Möglichkeiten in archaischen Gesellschaften von der Unterwerfung über rein tributäre Abhängigkeiten bis zum Schutzbündnis wird von Fall zu Fall nach Lage der Dinge (und das heißt zumeist der Böden und ihrer Fruchtbarkeit) in Anschlag zu bringen sein.
Locker nur konnte der politische Verbund eines Stammes sein, dessen Angehörige in verstreuten Siedlungen lebten. Verkehr und Verkehrsverbindungen waren fast noch fremde Begriffe. Umso erstaunlicher ist der lange, hartnäckige Widerstand, der sich seit 772 gegen die Eroberungspolitik Karls des Großen, gegen die Eingliederung des heidnischen Stammes in das oberflächlich christianisierte fränkische Reich erhob. In einem Edlen (nicht Herzog), in Widukind, fand dieser Widerstand seinen Führer, zumindest seine politische Symbolfigur. Die Taufe Widukinds (785) ist nicht der Endpunkt der sächsischen Unterwerfung, immer wieder flackerten Aufstände auf, aber sie ist der Ausdruck für die beiden Momente, welche die Eingliederung des sächsischen Stammes in das fränkische Großreich stärker bestimmten als Sieg und Niederlage in Schlachten und Kämpfen. Widukind war Angehöriger des Stammesadels, der als erster, seine Vorrechte sichernd, Frieden mit den Franken schloß, Heiratsverbindungen mit der fränkischen Reichsaristokratie einging, seine Kinder in die von Franken gegründeten Klöster schickte. Neben dem Adel bildete die Kirche den zweiten Faktor der Eingliederung Sachsens in das karolingische Reich. Klöster entstanden, zunächst noch wenig an der Zahl: Hameln, Brunshausen, Corvey, Visbeck – Niedersachsen ist stets ein relativ klosterarmes Land geblieben –, die ersten Konturen einer Bistumsorganisation zeichneten sich ab. Noch lebte vieles aus der Improvisation: Die ersten Bischöfe des Bistums Verden z. B. mußten noch aus der weit entfernten Abtei Neustadt am Main geholt werden, eher als Wanderbischöfe amtierend – außer Bardowick – gab es keine auch nur halbwegs bedeutende Siedlung in ihrem räumlich weitgespannten Sprengel. Die Christianisierung gelang zunächst nur oberflächlich, ihre politischen Folgen waren jedoch beträchtlich. Mit dem Zerfall des karolingischen Reiches konnte der Sachsenstamm im ostfränkischen Teilreich, aus dem dann das Reich der Deutschen entstand, eine Gleichberechtigung mit den drei anderen Stämmen, den Bayern, Alemannen und (Ost )Franken, erlangen. Dies war die Voraussetzung dafür, daß 919 der sächsische Herzog Heinrich I. zum König gewählt werden konnte.