Die Reformation
Die Reformation folgte in ihrem Verlauf den verfassungsgeschichtlichen Gegebenheiten. Sie ist in Nordwestdeutschland in zwei voneinander nahezu unabhängige Vorgänge zu trennen. In den Städten waren es die unteren Volksschichten, welche die lutherische Lehre, die vor allem durch das protestantische Kirchenlied Anhänger gewann, durchsetzten. Der patrizische Rat stand auf der Seite der alten Kirche, mit der er auf vielfältige Weise verbunden war, hatten doch z. B. die Vorfahren der Patrizier Altäre und Messen gestiftet. Soziale Konflikte begleiten die reformatorische Bewegung, können aber, ohne Kontinuität zu den spätmittelalterlichen sozialen Kämpfen, nicht als ihre Auslöser betrachtet werden. Am Beispiel Hannovers zeigt sich am deutlichsten, daß Innungen und Meinheit auch in der entscheidenden Phase der Stadtreformation 1530 bis 1532 durchaus wußten, wie sehr sie auf das Patriziat mit seinen wirtschaftlichen und politischen Verbindungen angewiesen waren. In zähen, bei aller Dramatik unblutig verlaufenden Verhandlungen wurde ergebnislos der Ausgleich zu finden versucht; die Patrizier meinten durchaus, mit ihrem Auszug nach Hildesheim einen Druck zugunsten der alten Kirche auf die unruhige Stadtbevölkerung ausüben zu können.
Von den unruhigen, wirrnisvollen reformatorischen Abläufen in den Städten ist bei der Fürstenreformation wenig zu spüren. Planmäßiges, Schritt für Schritt berechnendes Vorgehen kennzeichnet die Kirchenpolitik Ernst des Bekenners (1521–1546) im Lüneburgischen; politisch riskanter war schon seit 1540 die Durchsetzung der Reformation im Calenbergischen durch die Herzogswitwe Elisabeth (reg. 1540–1546). Altkirchlich gesonnen war Heinrich der Jüngere (1514–1568), der die politische Teilung der welfischen Lande durch eine konfessionelle Teilung zu vertiefen drohte, indem er sein Wolfenbütteler Herzogtum ohne bleibenden Erfolg der neuen Lehre verschloß und – weltliche und kirchliche Motive vermischend – sich als Vorkämpfer des alten Glaubens im Norden Deutschlands dem Kaiserhof empfahl.
So deutlich auch zu spüren war, daß seit der Zeit Maximilians das Königtum politischen Einfluß in Norddeutschland gewonnen hatte, so reichte dieser Einfluß nicht aus, die Ausbreitung der neuen Lehre zu verhindern. Unbeschadet aller Spannungen mit Karl V. hatte in Ostfriesland Edzard I. (der Große) die Grundlagen für die Einführung der neuen Lehre legen können. Die Fürstenreformation – und das gilt in der Negation auch für Heinrich den Jüngeren – war Ausdruck einer neuen Herrschaftsgesinnung. Die Obrigkeit fühlte sich für das Seelenheil ihrer Untertanen verantwortlich. Was in den Städten aus Volksbewegungen entstand, entwickelte sich in den Fürstentümern aus Herrschaftsakten. Die religiösen Auseinandersetzungen bewegten auf dem Lande die Gemüter kaum. (Nicht zuletzt aus diesem Grunde konnte sich Bugenhagens niederdeutsche Übertragung der Lutherbibel [1534] nicht durchsetzen.) Selbst der Adel blieb indifferent, nahm bis auf wenige Ausnahmen weder für noch wider die lutherische Lehre Partei.
Bei der Durchführung der Reformation hatten die Fürsten politische Verwicklungen vor allem mit dem Kaiserhofe zu fürchten, aber keine Proteste ihrer Untertanen. Widerstand fanden sie allenfalls bei den Klöstern – weniger bei den schnell abgefundenen Männerkonventen als bei den zunächst standhaften, mutigeren Frauenklöstern –, nicht jedoch bei den Bauern. Darin erweist sich nicht die Stärke der neuen Lehre, sondern die Schwäche der alten: mangelnde Seelsorge auf dem Lande und ebenso das Hauptgebrechen der spätmittelalterlichen Kirche, das Ausnutzen ihres reichen Besitzes durch ein von materiellen und weltlichen Interessen charakterisiertes Pfründedenken.
Zu wenige, vor allem zu wenig gebildete Verteidiger hatte die alte Kirche, als sie herausgefordert wurde. Aber auch die Reformation bedurfte auswärtiger Helfer. Die Persönlichkeiten, die ihr den konfessionellen Inhalt und über Kirchenordnungen auch den organisatorischen Rahmen gaben, kamen von auswärts. Johannes Bugenhagen aus Wittenberg, Urbanus Rhegius aus Augsburg, Johannes a Lasco aus Polen. Lediglich dem Reformator des Calenberger Landes, dem Hessen Anton Corvinus, wäre eine Kenntnis des Landes und seiner politischen und sozialen Verhältnisse zuzutrauen.
Die Spaltung der reformatorischen Bewegung hatten die Kirchenordnungen in den welfischen Territorien im Sinne der lutherischen Ausrichtung entschieden. Nur an der Nordseeküste konnte die reformierte Bewegung, konnten Calvinismus, teilweise sogar die Täuferbewegung (in der Gemeindebildung des Menno Simons) Fuß fassen. Ein ehemaliger katholischer Priester, der polnische Edelmann Johannes a Lasco, der 1543 nach Emden berufen wurde, gab der reformierten Bewegung im westlichen Ostfriesland starke Irnpulse. Besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist in Bremen, Stade und Emden zu beobachten, daß wirtschaftliche Verflechtungen Voraussetzungen für konfessionelle Veränderungen waren, daß aber auch von praktizierter Toleranz, wie deutlich in Emden und dann in Stade zu beobachten, mit Zugang andernorts verfolgter Gruppen eine wirtschaftliche Belebung ausging. Die Selbständigkeit Emdens gewann dem Calvinismus gegen den lutherischen Grafen ein wichtiges Einfallstor, ließ in Stadt und Umland reformierte Gemeinden entstehen, die sich dann in der Grafschaft Bentheim nach dem Grundsatz "cuius regio, eius religio" in einem geschlossenen Bereich ausdehnte.
Nordwestdeutschland war weitgehend protestantisch geworden. Das traditionsreiche Erzbistum Bremen und das arme Bistum Verden gingen der alten Kirche während des Reformationsjahrhunderts verloren. Das Hochstift Hildesheim war nach der Stiftsfehde 1519 bis 1523 in seinem territorialen Bestand entscheidend geschwächt. (Als der Bischof 1642 das verlorene Gebiet zurückerhielt, konnten die hier eingetretenen konfessionellen Veränderungen nicht mehr rückgängig gemacht werden.)
Nur noch in den Bistümern Hildesheim und Osnabrück, die nach der Reformation die nördlichsten katholischen Diözesen geworden waren, konnte die alte Kirche ihre Stellung mühsam wahren. Ihre namengebenden Hauptstädte aber waren lutherisch geworden; auf sich allein gestellt, erwiesen sich beide Hochstifte als zu schwach, so daß sie seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert meist in Personalunion mit einem rheinischen Bistum verbunden wurden. So hatte zwischen 1573 und 1761 das Bistum Hildesheim vier wittelsbachische Kirchenfürsten zum Herren, die als Kurfürsten und Erzbischöfe von Köln dieses Gebiet nur als ein Nebenland betrachteten.